Zum Lebenslauf von Harald Schultz-Hencke

Harald Schultz-Hencke, sitzend vor seinem Haus (1952)
Harald Schultz-Hencke, sitzend vor seinem Haus (Berlin 1952)

Harald (Julius Alfred Carl-Ludwig) Schultz-Hencke (18. August 1892 – 23. Mai 1953) wuchs in Berlin auf. Sein Vater Dankmar (Carl Sigbert) Schultz-Hencke war Direktor der Fotografischen Lehranstalt des Lette-Vereins in Berlin, seine Mutter Adelaide (Rosa Henrietta Julia Bertha) eine der ersten Graphologinnen in Berlin. Sie war in England geboren und wuchs dort auf. Vermutungen, wonach sie eine uneheliche Tochter des englischen Königs Edward VII sei, sind vermutlich unzutreffend. Adelaide starb vierzigjährig 1904. Vater und Großvater väterlicherseits führten Schultz-Hencke an naturwissenschaftliche Fragen heran und setzten ein Interesse fort, dass schon Schultz-Henckes Urgroßvater väterlicherseits, Carl-Ludwig Hencke, verfolgt hatte. Carl-Ludwig Hencke entdeckte als Amateurastronom 1845 und 1847 die Planetoiden Astraea und Hebe, welche zur damaligen Zeit als 12. und 13. Planet in das Sonnensystem eingeordnet wurden. Schultz-Hencke hatte drei Geschwister: die 1894 geborene Luanna (genannt Asträa), seinen Bruder Walter (geb. 1896), der 1915 im 1. Weltkrieg fiel, und Halbschwester Hanna (geb. 1908), die der zweiten Ehe des Vaters entstammte, die er nach dem Tod seiner ersten Ehefrau eingegangen war.

Nach dem Abitur 1911 an der Goethe-Schule in Berlin, einem Reform-Realgymnasium, studiert Schultz-Hencke in Freiburg i. Br. Medizin. Er besucht zusätzlich Seminare und Vorlesungen u. a. in Philosophie, vor allem bei Heinrich Rickert und Jonas Cohn, zudem bei Edmund Husserl und Martin Heidegger. Während seiner Studienzeit leitet Schultz-Hencke ab Ende 1913 die Pädagogische Abteilung der Freiburger Freistudentenschaft, trifft hier 1913 auf Walter Benjamin und 1914 auf Siegfried Bernfeld.

Schultz-Hencke meldet sich 1914 als Kriegsfreiwilliger zum 1. Weltkrieg, wird aus körperlichen Gründen aber nicht angenommen. Anfang 1915 wird er dann zum Kriegsdienst zugelassen. Nach einer kurzen Ausbildung nimmt er als Arzt zunächst für drei Monate an den Kämpfen um den Hartmannsweilerkopf (Frankreich) teil. Anschließend ist Schultz-Hencke, bis auf einen kurzen Fronteinsatz am Ende des Krieges, in mehreren rückwärtigen Kriegslazaretten tätig. 1917 hatte er zwischenzeitlich sein Medizinstudium nebst Promotion abgeschlossen und die Approbation erlangt.

Ende 1916 gewinnt Schultz-Hencke einen festen Zugang zur deutschen Jugendbewegung, speziell zu ihrem bürgerlich geprägten Arm, der Freideutschen Jugend. Ab 1917 gehört er zum „Kerntrupp“ der Bewegung (Busse-Wilson 1925, S. 53), ab etwa Mitte 1919 bis zur Auflösung der Freideutschen Jugend im Januar 1921 ist er ihre wesentliche Führungsfigur. Bekannt wird Schultz-Hencke durch seine Idee einer Freien Volkshochschule (vgl. Schultz-Hencke 1919) und durch sein politisches Programm für eine „neue Jugend“ (Schultz-Hencke 1921). Politisch steht er der SPD und USPD nah, ohne je eines ihrer Mitglieder zu werden.

1922 beginnt Schultz-Hencke seine psychoanalytische Ausbildung am Berliner Psychoanalytischen Institut (BPI), wo er sich zunächst bei Felix Boehm in Analyse begibt. Diese bricht er gegen Ende seiner Ausbildung ab und setzt sie bei Sandor Radó von Sommer 1925 bis Sommer 1926 fort. In dieser Zeit beendet Schultz-Hencke seine Ausbildung, wird im Oktober 1925 außerordentliches Mitglied der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung (BPV) und im Februar 1927 dann ordentliches Mitglied der aus der BPV hervorgegangenen Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG). Zusammen mit Otto Fenichel leitet Schultz-Hencke ab 1924 das „Kinderseminar“ am BPI, eine Zusammenkunft älterer Ausbildungskandidaten und junger Psychoanalytiker, in der klinische Fälle und Fragen zur Theorie und Praxis der Psychoanalyse diskutiert werden. Zwischen 1927 und 1929 ist Schultz-Hencke Dozent am BPI. Seine Kritik an der Freud´schen Metapsychologie führt im März 1929 zum Ausschluss aus dem Lehrkörper des BPI. Zum Bruch mit Fenichel kommt es Anfang 1930, vermutlich aufgrund divergierender fachlicher Standpunkte und aufgrund der verstärkten Zuwendung Fenichels zur kommunistischen Bewegung, welche eine Mitbenutzung des Kinderseminars durch Fenichel für seine politischen und berufspolitischen Überzeugungen einschloss. In der Konsequenz verlässt Schultz-Hencke das Kinderseminar Ende März 1930.

In erster Ehe war Schultz-Hencke mit Frida von Brixen, genannt von Hahn, einer Laborassistentin, verheiratet. Sie verstirbt im März 1929. Im August gleichen Jahres heiratet Schultz-Hencke Gerda Bally (geb. Lederer), eine aus der Schweiz stammende „Halbjüdin“, die zuvor mit dem Psychoanalytiker Gustav Bally verheiratet gewesen war. Beide Ehen Schultz-Henckes bleiben kinderlos. Die Ehe mit Gerda Bally wird 1947 geschieden.

1927 legt Schultz-Hencke erstmals seine psychoanalytische Denkweise dar (Schultz-Hencke 1927), die er nachfolgend differenziert und konkretisiert (Schultz-Hencke 1931, 1940, 1949, 1951, 1952). Vorwürfe von Psychoanalytikern gegenüber Schultz-Hencke, „seine Positionen enthielten höchstens noch 10 Prozent Freud´scher Anteile“ (Schultz-Hencke 1951, S. VI), sind in ihrer Schärfe unzutreffend. Z. B. nutzt Schultz-Hencke in seiner Lehre Überlegungen Freuds, die als metapsychologische Gesichtspunkte zusammengefasst werden. Selbstverständlich sind ihm Aussagen zu dynamischen, ökonomischen, genetischen und adaptiven Gesichtspunkten. Der Freud´schen Strukturlehre mit ihren Instanzen von Es, Ich und Über-Ich folgt Schultz-Hencke nicht. Grundlage seines dynamischen Modells vom Unbewussten ist das agonistische Antriebserleben, welches von Furcht-, Schuld- und Schamgefühlen, die er als antagonistisches Antriebserleben zusammenfasst (vgl. Schultz-Hencke 1951, S. 22f.), beeinflusst wird. Schultz-Hencke lehnt nicht die gesamte Sexualtheorie Freuds ab. Er wandte sich gegen einzelne Teile dieser, in dem er z. B. die Rolle des genitalen Erlebens und die des Ödipuskomplexes als geringer in ihrer Bedeutung für die Neurosenbildung bewertet als Freud und von einer Autonomie des Prägenitalen gegenüber dem Genitalen ausgeht. Für Schultz-Hencke bedeutet Letzteres z. B., dass Verdrängungen auf z. B. analem Gebiet nicht gleichzeitig mit Folgen für das genitale Gebiet – z. B. mit Verdrängungen auf diesem – einhergehen (Schultz-Hencke 1931, S. 11f.). Die Entwicklung seiner psychoanalytischen Lehre war im Wesentlichen bis 1933 abgeschlossen (vgl. Schultz-Hencke 1951, S. III und die Tagebuchnotiz vom 27.04.1943, in der es heißt: „Seit 10 Jahren liegt Lehre vom Tr[aum]., Technik der Desmolyse, Theorie der Psychose da.“) Jene Ausarbeitungen gelangen dann nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur zur Veröffentlichung (Schultz-Hencke 1949, 1951, 1952).

Eine unvoreingenommene wie umfassende bzw. systematische Bewertung der psychoanalytischen Lehre Schultz-Henckes, insbesondere bzgl. ihrer Überein- oder Nichtübereinstimmung mit der Freud´schen, steht noch aus. Schultz-Hencke selbst sah sich als Teil der Freud´schen Psychoanalyse, wenn er – mit Blick auf die eigene Arbeit – z. B. die Meinung vertrat, „jede moderne Neurosenlehre … sollte heute mit voller Ausdrücklichkeit und sachgerechterweise etwa zu zwei Dritteln aus Freud´schen Positionen bestehen, das letzte Drittel würde dann im Wesentlichen aus Tatbestandsbeschreibungen Adlers und Jungs zu bestehen haben“ (Schultz-Hencke 1951, S. V).

Die Bewertung Schultz-Henckes hinsichtlich seiner Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus ist uneinheitlich. Schultz-Hencke verurteilende Meinungen, insbesondere mit Blick auf seinen sogenannten „Tüchtigkeitsaufsatz“ (Schultz-Hencke 1934a,b), wie sie z. B. von Lockot (1985, S. 140f.) und Schröter (2009, S. 1104) vorgenommen wurden, stehen solchen von z. B. Werner Kemper gegenüber, der berichtet, Schultz-Hencke habe in einer Verwaltungsratssitzung des damaligen Deutschen Instituts für Psychologische Forschung und Psychotherapie geäußert: „Sie alle wissen, daß ich kein Nationalsozialist bin und niemals einer sein werde. Tun Sie (dabei schaute er auf Göring [Mathias Heinrich Göring, Leiter des Instituts]), was Sie zu tun für richtig halten“ (Kemper 1973, S. 318). Gerhart Scheunert, NSDAP-Mitglied und späterer Vorsitzender der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung, nicht verdächtig, ein Verteidiger Schultz-Henckes zu sein, schreibt z. B. in seinen Erinnerungen: „Paradoxerweise hatte der ausgeprägte Anti-Nazi Schultz-Hencke als fast Einziger in der Zeit bis 1945 seine Lehranalysen machen können … .“ (Archiv zur Geschichte der Psychoanalyse, Bundesarchiv Koblenz, Bestand 339, Nr. 527, S. 2)

Schultz-Hencke wird 1934 Gründungsmitglied der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie (DAÄGP). Er publiziert zahlreich in dem 1928 begründeten und bis 1944 fortgesetzten Zentralblatt für Psychotherapie. Am 1936 begründeten Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie nimmt Schultz-Hencke in Ausbildungsfragen eine führende Stellung ein. Leitungsfunktionen im Institut wie auch in der DAÄGP übernimmt er nicht.

Am 4. Mai 1945, kurz vor der Kapitulation Deutschlands, begründen Schultz-Hencke und der Psychoanalytiker Werner Kemper das „Institut für Psychopathologie und Psychotherapie“ (IPP). So wie im „Deutschen Institut“ sollten darin alle psychotherapeutischen Richtungen zusammenarbeiten. Aus dem IPP ging das „Zentralinstitut für psychogene Erkrankungen der Versicherungsanstalt Berlin (VAB)“, das spätere AOK-Institut für psychogene Erkrankungen mit ihrer langjährigen Leiterin Annemarie Dührssen, hervor. Das Zentralinstitut beschäftigt neben ärztlichen auch nichtärztliche Psychotherapeuten. Schultz-Hencke fördert die wissenschaftliche Auswertung der am Zentralinstitut durchgeführten psychotherapeutisch-psychoanalytischen Behandlungen, die später Annemarie Dührssen zusammen mit Eduard Jorswieck fortsetzen und die schließlich 1967 zur krankenkassenfinanzierten Psychotherapie in ganz Deutschland führt. Am 9. Mai 1947 waren Schultz-Hencke und Kemper auch wesentlich an der Gründung des Instituts für Psychotherapie Berlin (IfP) beteiligt. Es dient bis heute der Ausbildung von Psychoanalytikern und Psychoanalytikerinnen.

Auf dem 16. Internationalen Psychoanalytischen Kongress 1949 in Zürich sprach Schultz-Hencke zur psychoanalytischen Begriffsbildung (Manuskript abgedruckt bei Lockot 1994, S. 343–346). Als Vortragsredner folgt ihm Carl Müller-Braunschweig, der Schultz-Henckes Lehre – „von der Psychoanalyse aus gesehen“ (ebd., S. 218) – kritisiert (vgl. auch Kitlitschko 2019). Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG) wird auf dem Züricher Kongress nur vorläufig in die IPV wieder aufgenommen und ihr eine Klärung ihrer Positionen zur Schultz-Hencke´schen Lehre nahegelegt. Auf dem kommenden Kongress 1951 in Amsterdam wird nun die 1950 unter Federführung von Carl Müller-Braunschweig begründete Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV) in die IPV aufgenommen, die DPG dagegen nicht.

Schultz-Hencke stirbt 1953 an einer Lungenembolie als Folge einer zuvor stattgehabten Blinddarmoperation. Seine psychoanalytischen Positionen werden nach seinem Tod noch mindestens bis Mitte der 1980er Jahre von einer Mehrheit der DPG-Mitglieder als wesentlich erachtet. So ergab eine Studie der DPG von 1985, dass 79 Prozent ihrer Mitglieder und 60 Prozent der Weiterbildungsteilnehmer die „Wichtigkeit“ der Konzepte von Schultz-Hencke „für ihr Psychoanalyseverständnis und ihr therapeutisches Handeln“ bestätigten (Rudolf 1985, S. 10). Danach verstärkt sich eine schon vorhandene Entwicklung, in deren Folge Schultz-Hencke als Person – fraglich mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht (siehe oben) – und in seiner Lehre (vgl. z. B. Schulte-Lippern 1990) zurückgewiesen wird und er mittlerweile unter jüngeren Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern in Vergessenheit zu geraten droht. In der DDR griffen die psychodynamisch orientierten Psychotherapeuten stark auf die Konzepte Schultz-Henckes als Erklärungsmodell für Theorie und Praxis von Psychotherapie und Psychoanalyse zurück und dies bis zum Ende der DDR.

Literatur

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Busse-Wilson, E. (1925): Stufen der Jugendbewegung. Ein Abschnitt aus der ungeschriebenen Geschichte Deutschlands. Diederichs, Jena.
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Kemper, W. (1973): Werner W. Kemper. In: L. J. Pongratz (Hrsg.), Psychotherapie in Selbstdarstellungen, Huber, Stuttgart, 259–345.
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Rudolf, G., Rüger, U. (Hrsg.), (1988): Die Psychoanalyse Schultz-Henckes. Thieme, Stuttgart.
Schröter, M. (2009): „Hier läuft alles zur Zufriedenheit, abgesehen von den Verlusten …“ Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 1933–1936. Psyche – Z Psychoanal 63 (11), 1085–1130.
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